„Ohne Story keine Info­grafik“


Das engli­sche Magazin Delayed Grati­fi­ca­tion setzt – unter anderem – mit seinen mehr­fach ausge­zeich­neten Info­gra­fiken Maßstäbe. Was eine gute Info­grafik ausmacht und welche Chancen darin auch für die Unter­neh­mens­kom­mu­ni­ka­tion liegen, erklärt Geschäfts­führer und Chef­re­dak­teur Rob Orchard im Inter­view.

Rob Orchard ist Gründer, Geschäftsführer und Chefredakteur von Delayed Gratification. Das Magazin erscheint viermal im Jahr und wirft in langen Geschichten einen Blick zurück auf die wichtigsten Meldungen der vergangenen drei Monate. Dahinter steckt die von Orchard und seinen Mitgründern entwickelte Philosophie des Slow Journalism, die lange, gut recherchierte Hintergrundgeschichten vor Aktualität und Schnelllebigkeit von Meldungen stellt. www.slow-journalism.com

Rob Orchard ist Gründer, Geschäfts­führer und Chef­re­dak­teur von Delayed Grati­fi­ca­tion. Das Magazin erscheint viermal im Jahr und wirft in langen Geschichten einen Blick zurück auf die wich­tigsten Meldungen der vergan­genen drei Monate. Dahinter steckt die von Orchard und seinen Mitgrün­dern entwi­ckelte Philo­so­phie des Slow Jour­na­lism, die lange, gut recher­chierte Hinter­grund­ge­schichten vor Aktua­lität und Schnell­le­big­keit von Meldungen stellt.
www.slow-journalism.com

Warum sind Info­gra­fiken so ein essen­zi­eller Teil von Delayed Grati­fi­ca­tion?
Wegen der Philo­so­phie, die hinter dem Magazin steckt, stand das für uns schon zu einem sehr frühen Zeit­punkt fest. Wir wollten lange, gut recher­chierte Geschichten machen, nicht nur 200-Worte-Texte. Und wir wollten uns über die Gestal­tung unter­scheiden. Eines der entschei­denden Voraus­set­zungen für eine gute Gestal­tung ist die Heft­struktur: Die muss flexibel genug sein, damit die Redak­tion alle guten Ideen unter­bringen kann, aber auch verbind­lich genug, damit die Leser durch das Magazin navi­gieren und wissen, was sie erwarten können. Wenn nun eine lange Geschichte auf die andere folgt, ist das für den Leser ganz schön intensiv. Da braucht es zwischen­drin etwas Leich­teres. Die Leser brau­chen etwas für ihren Fünf­stun­den­flug genauso wie für die Fünf­mi­nu­ten­pause – und dafür eignen sich Info­gra­fiken ganz ausge­zeichnet.

Welche Vorteile bieten Info­gra­fiken?
Sie liefern Infor­ma­tionen deut­lich leichter und attrak­tiver als ein langer Artikel. Zudem ermög­li­chen sie es uns, immens viel Infor­ma­tion auf kleinem Raum zu vermit­teln. Sie können die Ergeb­nisse einer drei­mo­na­tigen Recherche in 5.000 Wörter packen – oder die Kern­in­for­ma­tionen in eine Info­grafik auf einer Doppel­seite. Unsere erste Regel ist aber stets: Es gibt keine gute Info­grafik ohne eine gute Geschichte. Leute stecken häufig viel Marke­ting, Zeit, Mühe und Gestal­tung in Info­gra­fiken, die dann auch recht hübsch sind, aber weder nütz­lich noch wirkungs­voll. Es ist sinn­voller, länger nach der geeig­neten Geschichte in einem Thema zu suchen, als auf Teufel-komm-raus eine unge­eig­nete Geschichte in eine Grafik zu packen.

Wie stellt ihr das sicher?
Wir gehen Info­gra­fiken aus zwei Rich­tungen an. Da ist die jour­na­lis­ti­sche Seite mit der Daten­re­cherche – bei der wir pein­lich genau darauf achten, ob wir auch die passenden Daten haben – und der Themen­ent­wick­lung. Und da ist die gestal­te­ri­sche Seite, die dafür sorgt, dass die Info­grafik anspre­chend wird. Nur die Einbe­zie­hung beider Seiten erlaubt es der Geschichte, sich zu entfalten.

Sie sind auch beson­ders wirkungs­voll …
Ja, eine gute Info­grafik bewirkt verschie­dene Dinge. Psycho­lo­gisch gesehen ist sie anspre­chend, spie­le­risch und infor­mativ zugleich. Im Ideal­fall ermög­licht eine Info­grafik viele verschie­dene Blick­winkel auf einen Sach­ver­halt. Was man außerdem nicht außer Acht lassen sollte, ist die Möglich­keit, Daten­mengen visua­li­siert vor sich zu haben. Umso öfter man sich die Grafik anschaut, umso mehr kann man entde­cken. Info­gra­fiken sind so anspre­chend, weil sie auf so vielen Ebenen arbeiten, und weil sie uns eine Geschichte unmit­telbar und nach­haltig zugleich entde­cken lassen.

Gibt es Themen, die sich beson­ders gut – oder über­haupt nicht eignen?
Ich bin davon über­zeugt, dass es keinerlei Beschrän­kungen bei den Themen gibt. Die Beschrän­kung liegt in den Geschichten. Für Info­gra­fiken gelten dieselben Prin­zi­pien wie für andere Artikel: Es muss einen Aufhänger, eine Ausrich­tung und eine Entwick­lung geben. Idea­ler­weise gibt es sogar noch etwas Humor, Dramatik, Außer­ge­wöhn­li­ches – und die Leser brau­chen einen Bezug zur Geschichte. Wir haben in Delayed Grati­fi­ca­tion alle Arten von Themen als Info­gra­fiken gemacht, von ernst bis albern. Aller­dings neigen wir dazu, eher leich­tere Themen als Info­gra­fiken umzu­setzen. Das liegt aber vor allem daran, dass wir sie gezielt als Kontra­punkt zu unseren langen inves­ti­ga­tiven Geschichten einsetzen wollen.

Gute Geschichten sind nunmal das beste Marke­ting der Welt.

In der Unternehmens­kommunikation tut man sich mit leichten Themen gerne schwer …
Ich befürchte, Unter­nehmen müssen auf diesem Gebiet noch Einiges lernen. Wenn es um Kommu­ni­ka­tion geht, arbeiten sie in der Regel inner­halb strenger Vorgaben – und versu­chen gleich­zeitig, Menschen dazu bewegen, ihre Geschichten zu lesen und sie Freunden weiter­zu­rei­chen. Weil gute Geschichten nunmal das beste Marke­ting der Welt sind. Und das ist der Punkt, an dem man ansetzen muss. Denn Info­gra­fiken sind ein groß­ar­tiges Mittel, um Botschaften unters Volk zu bringen. Aber momentan ertrinken Menschen darin. Wenn man also möchte, dass sie hängen­bleiben, muss man sich daran orien­tieren, wie gute Info­gra­fiken funk­tio­nieren und nicht skla­visch am Marken­hand­buch. Das ist nichts Bedroh­li­ches. Im Gegen­teil: Es ist sinnlos, eine Info­grafik nur um der Info­grafik Willen zu machen und Dinge zu verbreiten, für die sich die Menschen draußen nicht inter­es­sieren. Das ist meiner Meinung nach sogar geschäfts­schä­di­gend.

Was bereitet dir die größten Kopf­schmerzen bei der Umset­zung?
Ganz ehrlich: Mir macht es riesigen Spaß, Info­gra­fiken umzu­setzen. Das ist genau das, was ich schon immer machen wollte. Umso mehr, nachdem es aus ökono­mi­scher Sicht natür­lich der größte Blöd­sinn war, eine produktions­technisch extrem aufwän­dige Zeit­schrift ohne Marke­ting­budget in der Mitte einer Rezes­sion zu veröf­fent­li­chen. [lacht] Unser heutiger Erfolg ist daher eine enorme Genug­tuung.

infografik-anteile-daten-story-gestaltungÄhnlich verhält sich das mit den Info­gra­fiken. Ich bin glück­lich, so gut in einem kleinen Team zu arbeiten, das sich schon seit langem kennt. Und weil wir so viele Info­gra­fiken umge­setzt haben, verstehen wir uns dabei inzwi­schen blind. Für den Ablauf haben wir aber eine feste Formel entwi­ckelt: 80 Prozent der Arbeit haben wir erle­digt, bevor wir das Grafik­pro­gramm öffnen.

Wie sieht der Prozess aus?
Manchmal steht am Anfang die Geschichte, manchmal haben wir zuerst die Daten. Aber in der Regel recher­chieren wir Daten, entwi­ckeln die Story, glei­chen die Daten daran ab, machen Entwürfe, um sicher­zu­stellen, dass alles zusam­men­passt – und erst dann fangen wir mit der Gestal­tung an.

Und das lief von Anfang an so?
Wir haben hier viel aus eigenen Fehlern gelernt. Deswegen sind wir heute viel besser darin, Ideen auch zu einem frühen Zeit­punkt zu verwerfen. Nach fünf Jahren haben wir ein sehr gutes Gespür dafür entwi­ckelt, was funk­tio­niert – und in welchem Format. Es gibt fünf grund­le­gende Formen von Info­gra­fiken: illus­trativ, propor­tional, Zeit­leiste, Karte und Liste. Unsere Info­gra­fiken sind häufig Kombi­na­tionen aus diesen Formen. Dieses Wissen ermög­licht uns eine struk­tu­rierte Heran­ge­hens­weise. Das ist das Thema. Gibt es Daten? Sind die Daten korrekt? Können wir Vergleiche ziehen? Haben wir eine klare Story? In welcher dieser fünf Formen lässt sich die Story am besten umsetzen? Sind diese Fragen alle geklärt, haben wir in der Regel eine funk­tio­nie­rende Info­grafik.


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Wie viel Aufwand muss man in eine Info­grafik stecken?
Für eine große doppel­sei­tige Info­grafik brau­chen wir unge­fähr drei Tage Recherche – wir haben aber auch schon drei Wochen gebraucht. Die Umset­zung bean­sprucht dann circa vier Tage für eine Grafik mit vielen Detail­il­lus­tra­tionen. Bei den kleinen Grafiken sieht das anders aus. In der vergan­genen Ausgabe hatten wir eine zum Ölpreis. Die entstand aus meinem Ärger über die wahn­sinnig teure Tinte für unseren Drucker im Vergleich zum absurd nied­rigen Ölpreis. Ein Barrel Rohöl kostete da 27,10 Pfund, ein Barrel Drucker­tinte 708357,17 Pfund. Die ging ziem­lich schnell: Eine halbe Stunde rechnen, ein paar Stunden zum Zeichnen.

Ihr bietet auch Info­grafik-Semi­nare an. Was lernt man da konkret?
Wir führen die Teil­nehmer durch den kompletten Prozess. Wie und wo bekomme ich welche Daten her? Wie gehe ich jour­na­lis­tisch an Themen heran? Welche der fünf Formen passen zu meinem Thema am besten? Wie erschaffe ich daraus etwas wirk­lich Groß­ar­tiges? Wie funk­tio­nieren inter­ak­tive Info­gra­fiken? Und schließ­lich spre­chen wir über die Zukunft der Info­grafik. Also zum Beispiel den Wandel von flachen 2-D-Vektor­gra­fiken hin zu foto­ba­sierten 3-D-Druck-Info­gra­fiken.

Das Medium spielt nur eine unter­ge­ord­nete Rolle.

Welche Rolle spielt dabei Online?
Im Online­be­reich eignen sich Info­gra­fiken, die einfache Dinge oder einer Samm­lung von einfa­chen Dingen zeigen. Das Beispiel mit dem Ölpreis funk­tio­niert zum Beispiel hervor­ra­gend, weil es nett und klein ist und auch auf dem Smart­phone gut aussieht. Aus diesem Grund funk­tio­nieren die großen Info­gra­fiken nicht mehr so gut: Der erfor­der­liche Grad an Detail­tiefe ist auf kleinen Bild­schirmen nur schwer zu erfassen. Als Lock­mittel, um Leute auf unsere Website zu bekommen, die dann das Print-Abo bestellen, funk­tio­nieren unsere großen Info­gra­fiken aber ganz gut. [lacht]

Ganz offen­sicht­lich spre­chen Info­gra­fiken auch online eine Menge Menschen an. Einige unserer Info­gra­fiken haben sich viral verbreitet. Das ist toll, mitzu­ver­folgen, wenn sie zum Beispiel bei Twitter um die Welt wandern und sich dabei die Sprache ändert. Man muss dabei eben die Bild­schirm­größe und die Aufmerk­sam­keit­spanne der Leser beachten. Für einen unserer Kunden haben wir beispiels­weise eine große Info­grafik erstellt, die sich in kleine Elemente zerlegen ließ, die er dann über seine Sozialen Kanäle verbreiten konnte. Momentan arbeiten wir an zwei Info­gra­fiken, von denen eine inter­aktiv sein wird und die andere als Video daher­kommt. Das Medium spielt also gene­rell nur eine unter­ge­ord­nete Rolle.

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Macht noch aus den wildesten Daten eine anspre­chende Info­grafik: Chris­tian Tate, Art Director der Delayed Grati­fi­ca­tion

Steffen Beck
  • Autor:
    Steffen Beck
  • Datum:
    01.02.2016
  • Lesezeit:
    etwa 9 Minuten

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