Ein schriftliches Interview ist die Wiedergabe eines Gesprächs. MÖÖÖP - falsch! Interviews sind fiktionale Verarbeitungen realen Geschehens. Also eigentlich ein Traum. Und das ist auch gut so.
Hier geht es darum, wie aus Gesprächen schriftliche Interviews werden. Nein, es geht nicht darum, „ähs“ zu streichen, unwichtige Passagen wegzulassen oder unreine Formulierungen zu glätten. Dass die schreibende Zunft das tut, ahnt jeder, der schon mal mit einem anderen Menschen geredet hat. Es gibt halt kaum jemanden, der druckreif spricht.
Hier geht es um das Interview als fiktionales Format. Es ist nämlich gar nicht so wichtig, was der oder die Interviewte sagte, sondern viel wichtiger, was er oder sie gesagt haben könnte oder auch hätte sagen sollen.
Der Leser will es
Enthülle ich Ihnen gerade ein weiteres schmutziges Geheimnis der Meinungsmacher? Sind wir nicht alle ein bisschen Relotius? Nein nein, ich spreche über Handwerk… Und zum Handwerk gehört, dass ich an diejenigen denke, für die der ganze Interview-Aufwand getrieben wird. Und das sind zum Beispiel Sie, liebe Leserin, lieber Leser.
Was wollen Sie lesen? Eine Gesprächsdokumentation? Oder doch lieber einen Text, der Ihnen schnell und attraktiv ein paar Fragen beantwortet, Ihnen Überraschungen serviert und dabei einer nachvollziehbaren Logik folgt?
Im Anfang war der Bandwurmsatz
Fangen wir also am Anfang an, bei der ersten Frage und der ersten Antwort. Klaro, „Grüß Gott, wie geht’s? Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten. Wir wollten heute ja reden über…“ – das lassen wir alles weg. Aber wie ist nun die erste Frage und die erste Antwort?
Einfach mal reinhören: Es geht um eine neuartige, laserbetriebene Röntgenmaschine. Der Interviewte ist Professor und Erfinder des Ganzen [englisch].
Und der Beginn im verschriftlichten Interview?
Sie arbeiten an einer Röntgenstrahlquelle, die so groß ist wie ein Wohnzimmer und etliche Millionen Dollar kostet. Wer will denn sowas?
Alle.
Alle?
Naja, natürlich nicht alle. Aber alle, die in Gegenstände, Tiere oder Menschen schauen möchten, ohne sie zu öffnen.
Klingt schon eher nach etwas, das Sie lesen wollen, oder? Und keine Bange, die relevanten Infos aus der echten Antwort kommen sinngemäß im weiteren Verlauf.
Noch ein Beispiel. Eine Forscherin, die sich seit Jahren mit Terahertzwellen beschäftigt, wird gebeten, zu erklären, was das sei. Sie wissen nicht, was Terahertzwellen sind? Die Leser des Interviews vermutlich auch nicht. Hören wir mal rein [englisch]:
Lesen werden Sie dann dies:
Prof. S., Sie beschäftigen sich mit Terahertzwellen. Was ist das überhaupt?
Von Infrarot- und Mikrowellen hat ja vermutlich jeder schon einmal gehört. Zwischen diesen beiden gibt es auf dem elektromagnetischen Spektrum einen Bereich von Wellen, die eine Frequenz von irgendwas zwischen 0,1 und 10 Terahertz aufweisen. Das sind Terahertzwellen. (…)
Zugegeben auch harte Kost, aber schon etwas vorverdaut durch den Redakteur, um dem Leser den Einstieg in die komplexe Thematik zu erleichtern.
Inhalte zu komprimieren, nachträglich Erklärungen einzufügen, wo sinnvoll, und aus einer langen Antwort, zwei oder drei kürzere zu machen – dieser Ansatz ist vor allem zum Einstieg praktisch, lässt sich sich aber auch im Verlauf des Interviews immer wieder anwenden.
Bälle werfen
Manchmal wogt ein Gespräch zwischen mir und dem Interviewten wild hin und her. Zum Beispiel dann, wenn ich die Antwort nicht verstehe oder später noch einmal auf etwas zurückkommen möchte, was ein paar Minuten zuvor gesagt worden ist. Dieses Hin und Her streiche ich dann frech und präsentiere Ihnen, liebe Leser, ein konsistentes, angenehmes Frage-Antwort-Schema.
Und manchmal wiederum läuft das Gespräch so glatt, dass es etwas Pfeffer vertragen könnte. Vor allem bei längeren Interviews versuche ich dann, ein lebendiges Gespräch zwischen Redakteur und Gegenüber zu zeichnen.
Zum Beispiel in einem Interview über die demografische Entwicklung in Deutschland [Antworten sind gekürzt]:
Wenn Deutschland also überaltert…
Vorsicht mit solchen Vokabeln, wie Überalterung, Überfremdung, Überbevölkerung! Das sind alles irreleitende Reizworte mit Instrumentalisierungscharakter. (…)
Wenn in Deutschland also immer mehr Alte leben…
Vorsicht auch hier! Was ist denn ein alter Mensch? Auch hier haben wir gleich ein Bild im Kopf, das über die reine Anzahl an Lebensjahren hinausgeht. (…)
Gut, wenn also die deutsche Bevölkerung insgesamt älter wird, wer soll denn dann arbeiten und den Wohlstand erwirtschaften?
Unter anderem Roboter und künstliche Intelligenz. (…)
Hier wob ich die Diskussion um die richtige Formulierung – die im Gespräch tatsächlich stattfand – als kleines Geplänkel zwischen Frager und Antworter und konnte gleichzeitig drei inhaltliche Punkte sinnvoll hintereinander präsentieren. In Wahrheit war mein Gesprächspartner durchaus nicht so unhöflich, mich in meinen Fragen zu unterbrechen. Aber so liest es sich eben schöner.
Ein zweites Beispiel. Dies ist ein Auszug aus einem Doppelinterview mit zwei Geschäftsführern über die Zukunft des Unternehmens [gekürzt]:
Geschäftsführer 1: (spricht zuvor über allgemeine Trends der Branche) Dazu braucht es im Hintergrund Dirigenten mit Übersicht.
Moment mal, Sie sagen „Dirigent“. Als Zulieferer und Dienstleister ist Ihr Unternehmen ja wohl nicht unbedingt ein Dirigent.
Geschäftsführer 2: Auf den ersten Blick sicherlich nicht. Und dennoch (…)
In Wahrheit war dies ein längerer Austausch zu dritt darüber, wie sich das Unternehmen in seiner eigenen Branche sieht. Das „Moment mal!“ sagte ich nie. Es steht da, weil es das Überraschende der Sichtweise unterstreicht und dem Leser deutlich macht, dass hier etwas Wichtiges gesagt wurde und jetzt gleich erläutert wird. Außerdem habe ich einen Sprecherwechsel eingebaut, um dem Leser einen erfrischenden Stimmenwechsel im Kopf zu geben.
Die Grenzen der Fantasie
Also alles nur Lug und Trug? Nein, Dienstleistung. Als Redakteur sehe ich mich als Anwalt des imaginierten Lesers und versuche, ihm oder ihr ein angenehmes, informatives Leseerlebnis zu verschaffen.
Das hat natürlich Grenzen. Und die sind eindeutig: Inhalt und Sprechstil.
Der Inhalt ist heilig. Niemals werde ich den Interviewten inhaltlich etwas sagen lassen, das er oder sie nie sagte! Umformulieren, Sampeln, Verdichten, Kürzen, Vereinfachen – ja. Verfälschen – nein.
Etwas schwieriger ist die Sache mit dem Sprechstil. Ich glaube, als Leserin haben Sie nicht nur Interesse am Inhalt, sondern immer auch an der Person, die befragt wird. Und damit haben Sie das Recht, die Person so sprechen zu „hören“, wie sie tatsächlich spricht.
Nun drehe ich ja aber im Dienste des Lesers diese Wortmühle und stülpe damit immer auch ein bisschen meinen eigenen Stil dem Interviewten über. Das ist mir bewusst. Und genau darum achte ich darauf, dass mindestens passagenweise der Interviewte dem Leser so gegenübertritt, wie er mir im realen Gespräch begegnet.
Spricht jemand sehr sachlich und abgewogen, lege ich ihm oder ihr keine Saloppheiten in den Mund. Legt Herr oder Frau Professor großen Wert auf abstrakte, akademische Sprache mit schwierigen Fremdwörtern und langen Sätzen, werden Sie dies stellenweise auch zu lesen bekommen.
Klar, alles eine Gratwanderung. Aber es hat ja auch keiner gesagt, dass der Redakteursberuf einfach sei, gell?
Und wo ist die Wahrheit?
Bleibt noch die Frage nach der Wahrheit. Ist sie irgendwo da draußen? Möglicherweise. Machen Sie sich aber bitte klar, dass alles Gemachte genau das ist: gemacht.
Texte, Bilder, im Grunde sogar schon die künstliche Situation „Redakteur trifft Interviewpartner“ sind Produkte, die einen Zweck verfolgen. Nämlich Sie, liebe Leser, zu unterhalten und zu informieren. Das ist meine Arbeit, dafür bezahlen uns unsere Kunden und dafür bezahlt mich mein Chef.
Wenn Sie also Sehnsucht nach purer Authentizität haben, suchen Sie sie bitte woanders. Schlimm finde ich das nicht. Denn dafür präsentiere ich Ihnen statt eines verwirrenden Gesprächsprotokolls einen schönen, an der Realität orientierten Traum.
Ich lüge Sie also immer ein bisschen an. Glauben Sie mir.