Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war

Warum ist es so viel leichter, sich das Ende der gesamten Welt vorzu­stellen, als einfach nur das Ende der Gegen­wart? Hier ein paar Gedanken über die Zukunft.

Wenn Sie mal so richtig schlechte Laune kriegen wollen, schauen Sie Netflix. Jede zweite Serie spielt nach der Kata­strophe: Zombie­seuche, rätsel­hafter Vernich­tungs­krieg, Alien-Inva­sion. Wenn Sie kein Netflix haben, kucken Sie halt dasselbe auf Amazon Prime, Apple TV oder spielen Sie Play­sta­tion. Völlig egal, was Sie schauen, Sie schauen die Apoka­lypse.

In der ­Serie „Black Summer“ verwan­delt ein Virus – viel­leicht war es auch ein Pilz (man kommt so leicht durch­ein­ander) – den Groß­teil der Mensch­heit in kanni­ba­li­sche Zombies. Nur wenige über­leben. Doch statt einander zu helfen, metzeln sie sich nieder und kämpfen um die kärg­li­chen Reste der Zivi­li­sa­tion. Im Konsolen-Hit „The Last Of Us“ Teil eins und zwei droht dasselbe: eine unter­ge­gan­gene Welt, gewalt­geile Über­le­bende. In „Tomorrow War“ rekru­tiert die verzwei­felte, fast ausge­rot­tete Mensch­heit der Zukunft Soldaten aus unserer Gegen­wart für die letzte Abwehr­schlacht gegen die Aliens. In „The Rain“ rafft tödli­cher Regen fast alle Menschen dahin. In „Tribes of Europe“ massa­kriert sich das in Krie­ger­horden zerfal­lene Europa. Und in „Survi­vors“ – ach, egal.

Warum können wir uns die Zukunft nur noch als Kata­strophe ausmalen?

Die Visionen der Apoka­lypse, von Siechtum, Endzeit und Gewalt prägen die popu­läre Kultur unserer Zeit. Millionen und Millionen Köpfe welt­weit füllen sich immer und immer wieder aufs Neue mit solch düsteren Fanta­sien. Wir dürsten nach diesem Unter­gangs­ge­bräu – und Film­stu­dios, Spiele-Schmieden und Ver­lage zapfen es uns aus vollen Fässern.

Klar, Geschichten vom Welten­ende gibt es schon lang, aber noch nie als solch endloses Flächen­bom­bar­de­ment wie heute. Warum nur ist das so? Warum können wir uns die Zukunft nur noch als Kata­strophe ausmalen? Warum ist es so viel leichter, sich das Ende der gesamten Welt vorzu­stellen, als einfach nur das Ende der Gegen­wart?

Friday’s no Future

Die erste Antwort darauf liegt nah: Es gibt sie ja tatsäch­lich, die dräu­enden Kata­stro­phen. Erder­hit­zung und Umwelt­zer­stö­rung sind gewiss sowohl die folgen­reichsten als auch abseh­barsten aller Welt­pro­bleme. So nötig, berech­tigt und löblich die Klima­pro­teste durch Fridays for Future und andere auch sind: Sie sind getrieben von Angst vor der Zukunft. Angst ist das mäch­tigste Gefühl, das ein Säuge­tier wie wir spüren kann – stärker als jede Tugend. Angst alar­miert, Angst lässt sich kaum igno­rieren, Angst ist anste­ckend.

Auch wer in Deutsch­land jung ist, denkt wie ein Alter.

Auch die zweite Antwort drängt sich auf: Natür­lich scho­cken uns die imagi­nierten Zukunfts­höllen mit Gefahr, Einsam­keit und Entbeh­rung. Aber sie geben uns auch etwas, wonach wir uns so sehr sehnen: Klar­heit. Die Welt ist wahn­sinnig klein­teilig, gleich­zeitig und unüber­sicht­lich geworden. Wir leben ein durch-media­ti­siertes Leben: Alle senden immer, alle sind immer auf Empfang. Tausend wider­sprüch­liche Botschaften täglich.

Kein Wunder, dass sich ein Gefühl von Über­for­de­rung ausbreitet, der Wunsch nach mentaler Entlas­tung. Und im Zombie-Endkampf ist auf einmal alles so einfach: über­leben oder sterben. Hier gibt es keine Tweets mehr, keine Migra­tion, keine globa­li­sierten Waren­ströme, keine Flug­scham, keine Finanz­crashs, kein Shop­ping, keine Gender­stern­chen, keine Produkt­be­wer­tungen. Alles ist klar. Die Post­apo­ka­lypse als Komple­xi­täts­re­duk­tion.

Die deut­sche Opaka­lypse

Doch etwas spezi­fisch Deut­sches kommt zur inter­na­tio­nalen Kata­stro­phen­sucht hinzu: Wir sind ja so alt. Kurz hinter Japan hat Deutsch­land die älteste Einwoh­ner­schaft der Welt. Fast 60 Prozent aller Wahl­be­rech­tigten sind über 50. Das sind nicht bloß Statis­tiken, das beein­flusst den Gemüts­zu­stand unserer ganzen Gesell­schaft.

Auch wer in Deutsch­land jung ist, denkt wie ein Alter: Skepsis gegen­über Fort­schritt (mRNA-Impf­stoffe, Funk­masten, auto­nomes Fahren), Traum von der Verbe­am­tung statt von der Unter­neh­mens­grün­dung, Inves­ti­ti­ons­un­lust (Digi­ta­li­sie­rung, Aktien, Brücken) und ein seuf­zender Blick in die Zukunft: Wenn doch nur alles so bliebe, wie es ist!

Es ist beinah egal, welches Übel der Mensch­heit Sie betrachten: Es schrumpft.
Egal, welches Wohl: Es wächst.

Das Rent­ner­denken hat inzwi­schen auch sich selbst erreicht und fanta­siert sich eine demo­gra­phi­sche Kata­strophe herbei. Über­al­te­rung! Opaka­lypse! Renten­armut! 1960 kamen rund sechs Beitrags­zahler auf einen Rentner, 2020 sind es – o Graus – bloß noch 1,8 Einzahler die einen Rentner durch­füt­tern müssen! 2030 nur noch 1,5!! Kleiner Hinweis: Im Jahr 1921 kamen noch viel, viel mehr Beitrags­zahler auf einen Rentner. Jedoch: Wann wollten Sie lieber deut­scher Rentner sein? 1921 oder 2021? Sehen Sie.


Faktisch? Besser!

Über­haupt, die Statis­tiken. Ich lade hier mal das Maschi­nen­ge­wehr mit ein paar leicht auffind­baren Zahlen:

  • Die Selbst­mord­rate in Deutsch­land hat sich in den letzten 100 Jahren halbiert.
  • Die Gewalt­kri­mi­na­lität sinkt welt­weit seit Jahr­zehnten.
  • Die durch­schnitt­liche Wohn­fläche pro Kopf hat sich in Deutsch­land seit 1970 fast verdop­pelt.
  • Die globale Armut hat sich allein in den letzten 20 Jahren halbiert.
  • 90 Prozent weniger Menschen sterben bei Natur­ka­ta­stro­phen als noch vor hundert Jahren (obwohl sich die Welt­be­völ­ke­rung seither fast verdrei­facht hat).
  • Welt­weite Kinder­sterb­lich­keit: seit 1990 halbiert
  • Es gibt doppelt so viele Mara­thon­läufer über 60 als noch 2003.
  • Und, und, und.

Es ist beinah egal, welches Übel der Mensch­heit Sie betrachten: Es schrumpft. Egal, welches Wohl: Es wächst. Das heißt nicht, dass alles paletti ist. Aber alles deutet darauf hin, dass die Zukunft ein besserer Ort sein wird als das Hier und Heute.


Indus­trie als starker Gries­gram

Das deut­sche Rent­ner­denken macht auch vor der Indus­trie nicht Halt – wie sollte es? Klar, Jammern gehört seit je zum Busi­ness: Niemand hat so gars­tige Zukunfts­aus­sichten wie ein reicher Geschäfts­mann.

Doch selten war die Kluft so riesig zwischen Rang und Perspek­tive der deut­schen Indus­trie und ihrem selbst­ge­zeich­neten oder vermit­telten Lage­bild: Die Aussichten sind bestens, die Laune trüb. Unter anderem steht da ja ein gigan­ti­sches Wirt­schafts- und Konjunk­tur­pro­jekt an: der Umbau zu ressour­cen­scho­nender Produk­tion und nach­hal­tigem Ener­gie­ver­brauch.

Die Aussichten sind bestens, die Laune trüb.

Der öffent­liche Diskurs über Wirt­schaft hingegen ist geprägt von Skan­dalen (Diesel, Wire­Card), Ängsten (die Chinesen, Silicon Valley) oder Trauer (verlo­rene Solar­in­dus­trie, Werften). Dabei geschieht jeden Tag Erstaun­li­ches in deut­schen Werks­hallen, Chef­etagen und Entwick­lungs­la­boren: Inno­va­tive und hoch­pro­fi­table Produkte und Geschäfts­mo­delle entstehen jeden Tag überall zwischen Nordsee und Bodensee. Biotech­no­logie, Robotik, Produk­ti­ons­soft­ware, erneu­er­bare Energie, Optik, Maschi­nenbau, Elek­tro­technik, Luft­fahrt et cetera.

Die deut­schen Unter­nehmen gehören in vielen der wich­tigsten Bran­chen zu den besten der Welt und leisten Großes. Und verdienen nebenbei auch sehr gut damit. Aktu­elles, furioses Beispiel: BionTech.

Das Reser­voir an gutaus­ge­bil­deten, hoch­ta­len­tierten Leuten ist so voll wie sonst fast nirgendwo (oder kennen Sie da ein Land?). Der poli­ti­sche Rahmen stabil, der Rechts­staat sowieso. Gut, ein paar mehr Glas­fa­ser­kabel dürften liegen, aber die Infra­struktur ist immer noch führend. Es ist Zeit, Netflix mal abzu­schalten und die Rent­ner­brille abzu­setzen. Hier geht noch einiges. 

Florian Burkhardt

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