Wer intern und extern erfolgreich kommunizieren will, sollte vorher Mitarbeitenden und Kunden genau zuhören, sagt Prof. Michael Müller. Und der Kommunikationsexperte erklärt, was Story-Doing ist.
Herr Prof. Müller, muss man heute noch jemandem erklären, was Storytelling ist?
Dr. Michael Müller ist einer der Pioniere der narrativen Organisationsentwicklung in Deutschland. Er ist Professor für Medienanalyse und Medienkonzeption an der Hochschule der Medien, Stuttgart, und leitet dort das „Institut für Angewandte Narrationsforschung“ (IANA).
Michael Müller: Einerseits ist Storytelling den meisten Kommunikatorinnen und Kommunikatoren ein Begriff. In Unternehmen muss ich nicht mehr erklären, was Storytelling ist und warum es nötig ist. Gleichzeitig hat sich der Begriff aber auch zu einem Buzzword entwickelt. Nehmen wir Instagram oder Tiktok. Das meiste, was hier unter Story läuft, sind einfach nur Videos. Wenn jemand einen Sonnenuntergang oder sein Essen filmt, dann ist das keine Geschichte im Sinn der Erzähltheorie.
Blicken wir auf den Stand der Wissenschaft und Forschung. Was hat sich hier getan?
Mehr Storytelling führt zu mehr Wirkungsstudien. Da zeigen sich immer mehr die Vorteile, mit Geschichten zu kommunizieren. Früher haben wir nur vermutet, dass Storys mehr Interesse wecken, die Merkfähigkeit erhöhen und der Zielgruppe einen emotionaleren Zugang zu Marke und Produkten ermöglichen. Heute wissen wir das. Und wir wissen, dass Identitäten von Organisationen und Unternehmen narrativ konstruiert sind. Das bedeutet, dass Storytelling in allen sozialen Systemen in eine Vielzahl an erzählerischen Handlungen und Operationen eingebettet ist. Es reicht also nicht, einfach gute Storys zu erzählen, man muss auch wissen, in welchem Narrativ, also in welcher Geschichtenwelt, diese aufsetzen. Dadurch ist heute klar: Ohne Storylistening ist gar kein Storytelling möglich, das Identität stiftet und auf Ziele einzahlt.
Wenn jemand einen Sonnenuntergang oder sein Essen filmt, dann ist das keine Geschichte im Sinn der Erzähltheorie.
Storylistening beschreibt Methoden, mit denen wir Geschichten in Organisationen finden. Welche Rolle spielen hierbei soziale Medien?
Die sozialen Medien eröffnen da sicher neue Möglichkeiten. Wenn ich beobachte, wie meine Zielgruppe Themen kommentiert, kann das eine Ergänzung sein, das echte Storylistening aber nicht ersetzen.
„Identität kann man nicht definieren“
Vor sieben Jahren haben wir uns schon einmal mit Prof. Müller unterhalten. In unserem ersten Interview spricht er u.a. über Storylistening, über Abweichungen von Selbst- und Fremdbild und daraus entstehende Identitätsprobleme.
Worauf sollte man beim Storylistening achten?
Immer wieder denken Kommunikatoren, dass Storylistening mit einer Umfrage oder gar Online-Umfrage möglich ist. Doch was jemand für eine Meinung hat, sagt meist nichts darüber aus, wie jemand handelt. Um das herauszufinden, muss man Menschen über ihre Erfahrungen erzählen lassen. In der B2B-Kommunikation würde man beispielsweise einen Kunden erzählen lassen, warum er eine Maschine gekauft hat und wie der Prozess abgelaufen ist.
Also ist der gute alte Anwenderbericht gleichzeitig ein gutes Mittel für Storylistening?
Nur dann, wenn er nicht ein reiner Sachbericht ist, sondern erzählerisch strukturiert ist. Wer hier genau zuhört, erfährt sehr viel. Gegebenfalls sind da auch Dinge dabei, wo wir noch besser werden müssen. Das könnte dann gleich in die Organisationsentwicklung einfließen, und so schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.
Wenn die Unternehmenskommunikation Botschaften rausbläst, die nicht mit der Erfahrungswelt der Mitarbeitenden übereinstimmen, dann wird das nicht lange gut gehen.
Machen Sie noch Unterschiede zwischen interner oder externer Kommunikation?
Beides wächst ja schon seit langem immer mehr zusammen. Was ein Unternehmen medial nach innen kommuniziert, hat ja immer eine Außenwirkung. Es wäre illusorisch zu glauben, dass alles intern bleibt, was in einer Mitarbeitendenzeitschrift steht. Social-Media-Posts aus der Belegschaft wirken nach außen und nach innen. Wenn die Unternehmenskommunikation parallel dazu Botschaften rausbläst, die nicht mit der Erfahrungswelt der Mitarbeitenden übereinstimmen, dann wird das nicht lange gut gehen.
Wie erkennen wir, ob die Kommunikation funktioniert?
Wenn die IK-Abteilung Geschichten erzählt, die weder Widerspruch noch Affirmation erzeugen, dann ist das ein Zeichen, dass die Kommunikation an den Interessen der Mitarbeitenden völlig vorbeigeht. Da sind wir wieder beim rückgekoppelten System. Nur wenn ich weiß, in welchen Geschichtenwelten meine Mitarbeitenden leben, kann ich Storys bauen, die anschlussfähig an deren Bedürfnisse sind.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Ja: Ein Technikunternehmen hatte einen Strategieworkshop in Auftrag gegeben, mit dem Ziel, darauf aufbauend eine Story zu entwickeln. In der Runde mit den Führungskräften stellte sich heraus, dass die Strategie in deren Köpfen schon definiert war. Sie wollten Marktführer in ihrem Bereich werden.
Aus unserer Praxis wissen wir, dass solche Zielsetzungen weder im Markt und schon gar nicht bei den Mitarbeitenden verfangen. Das ist viel zu abstrakt. Wir haben deshalb vorgeschlagen, erstmal Geschichten der Mitarbeitenden zu sammeln. Dabei hat sich herausgestellt, dass der eigentliche Kern, der die Angestellten beseelt hat und ihnen Sinn gestiftet hat, ein anderer war: Sie sahen das Unternehmen als Problemlöser. Sie konnten Probleme für die Kundschaft lösen, die sonst niemand lösen kann. Anknüpfend an diesen Identitätskern haben wir die Strategie ausgebaut und eine Geschichte entwickelt, die anschlussfähig an die Geschichten der Mitarbeiter war.
Neue Erfahrungen schaffen, die dann neue Geschichten erzeugen, das ist Story Doing.
Stichwort Anschlussfähigkeit. Sicher gibt es genügend Fälle, wo man bestehende Narrative gerne ändern würde. Wie gehen Sie hier vor?
Für diese Fälle haben wir einen neuen Aspekt eingeführt, den wir Story-Doing nennen. Der Ansatz kommt aus der Organisationsentwicklung. Wenn wir Veränderungen anstoßen wollen, reicht es meist nicht, neue Geschichten zu erzählen. Da geht es darum, neue Erfahrungen zu schaffen, die zu diesen Geschichten führen.
Ein Beispiel: Wir waren in einem Unternehmen, in dem viele Mitarbeitende das feste Narrativ im Kopf hatten, interne Projekte verschwänden in der Schublade. Deshalb lohne es sich nicht, sich zu engagieren. Parallel haben wir festgestellt, dass viele Kollginnen und Kollegen unzufrieden waren mit den langen Wartezeiten in der Kantine. In einem Projekt haben wir die Kantine umorganisiert und die Anstehzeiten deutlich verringert. Wir haben neue Erfahrungen geschaffen und diese Story dann im Unternehmen erzählt. Und wir haben dem Narrativ, dass hier interne Projekte nie zu Ende gebracht würden, einen Riss verpasst. Das ist Story Doing: Neue Erfahrungen schaffen, die dann neue Geschichten erzeugen.